DADADO100

2016 zum 100-jährigen DADA Jubiläum entschlossen sich Anette Göke, Richard Ortmann, Dieter Gawol und weitere Dortmunder Künstler/innen, die Kunstrichtung in Dortmund wiederzubeleben. Ein maßgeblicher Mitbegründer des DADAismus, Richard Huelsenbeck, hat in Dortmund gelebt und ist auf dem Südfriedhof bestattet.
Diese Veranstaltungsreihe DADADO100 wird Dortmund als Zentrum des DADA weiterentwickeln und soll sich neben Zürich, Berlin, New York, Paris international etablieren und langfristig die literarischen, wie künstlerischen Traditionen dieser Stadt sichtbar machen.
In den vergangenen Jahren hat sich das Format weiterentwickelt und verbindet stadtweit verschiedene Orte miteinander, künstlerische Traditionen und vernetzt damit auch unterschiedliche Kunstszenen in der Stadt.
Das Projekt hat in der Öffentlichkeit eine große Resonanz erhalten. Bisheriger Höhepunkt war die Nominierung für den vom Ostwall Museum ausgelobten Kunstpreis ‚Follow me DADA and FLUXUS‘.

Ansprechpartner:
Dieter Gawol
dadado100[aet]gmx.eu

• Adress-/Kontaktdaten:
Kulturhaus Neuasseln
44309 • Am Buddenacker 9
kontakt@richard-ortmann.de

„Überschätzter Kunstbetrieb
‚Ich tanzte zu Tom Jones‘

Vernissagen sind das neue Starbucks. Sie ziehen wahllos Publikum an. Die Zeit, in der es keine Vernissagen gibt, überbrückt der Kunstzirkus mit Kunstmessen, wie der Frieze in London oder, wie jetzt gerade, der Art Basel. Sollte nun wer einwenden, dass ich bitte nicht die Kunst mit dem Kunstzirkus in einen Topf werfen möge? Ja, ja, ist ja schon gut . . .
Jede Kunstform hat aber das Publikum, das es verdient. Im schlechtesten Fall sitzt man im Kino bei ‚Sex and the City‘ vor einer Reihe hysterischer Muttis, die ständig zum Pipimachen müssen, man lässt sich im Theater von Ben Becker aus der Bibel vorlesen, oder man geht in Berlin auf ein Konzert von Adam Green, wackelt dazu mit dem ungewaschenen Kopf und schreibt in seinen Kinderblog auf MySpace, den keiner liest, dass es toll war.
Was die bildende Kunst angeht, müsste man schon so sympathisch lächeln wie der Künstler am Eingang dieses Textes, wollte man mir einreden, hier gehe es um Anmut und Aussage von Werken, die sich, wie ein Kurator sagen würde: dem Betrachter in ihrer Sperrigkeit, hüstel, in den Weg stellen . . .
Malt der Künstler auf eine Leinwand, so bedient er eine Oberfläche, und keine Frage, dabei entstehen immer wieder mal Bilder von Zauber. Überhaupt lässt sich die Oberfläche, vor allem auch die Oberflächlichkeit gar nicht genug loben, solange sie was hermacht.

Viel Lärm um nichts
Das Problem aber ist ja nicht neu: es wird inzwischen ein Kunstmarkt bedient, der so heißgelaufen ist wie der Immobilienmarkt der Londoner Stadtteile Mayfair und Kensington, was heißt, dass man an der Tür nicht mehr so genau gucken kann, wer reinkommt und wer nicht.
Bleiben wir an der Oberfläche – bei den Partys, auf denen Sammler, Galeristen und Kuratoren auf den Messen sämtliche Multiplikatoren abfüllen, die nicht schnell genug auf die Bäume gekommen sind.
Diese Partys sind kein gutes Zeichen, ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe sie aus Angst, etwas zu verpassen, natürlich alle besucht. Es steht schlecht um diese Partys – für den Kunstmarkt ein alarmierendes Zeichen.
‚Sehen wir uns in Basel?‘ war die mir meistgestellte Frage der letzten Wochen. Winke ich ab, werden eigentlich nette Menschen plötzlich böse: Du musst erst mal zur Art Limited, das ist die Preview der Art Basel! Jemand wie du kann sich so ein armseliges statement, Kunst doof zu finden, nicht leisten!
Dabei weiß ich nicht, was ich heute langweiliger finde, die Kunst oder den Künstler. Ein Musiker braucht wenigstens einen Hauch von Sex Appeal, um vergöttert zu werden. Ein Künstler darf aussehen wie Jonathan Meese und kann trotzdem Bilder für je 1 Million Euro in Dubai verkaufen.
Als in den 90ern Fashion und Design plötzlich wichtig wurde, ging es noch um den richtigen Stil. Wer nicht hübsch, cool oder Model war, konnte es vergessen. Der kam, im wahrsten Sinne des Wortes: nicht rein.
Auf Buchmessenpartys sollte man halbwegs einen Small Talk mit einer hübschen Lektorin hinbekommen. In Theaterkreisen sollte man die neueste Inszenierung gesehen haben.
Auf den Partys der Fashion Week in Paris oder New York versuchen die Leute wenigstens, sich gut anzuziehen. Solche schönen Partys sind das Gegenteil von Bars wie zum Beispiel dem Ed Moses in München, wo es passieren kann, dass eine Gruppe vorbildlicher Frauen und Männer beim Türsteher aufläuft, weil erst mal eine Taxiladung aus Fürstenfeldbruck begrüßt, umarmt und reingewunken werden muss.

Hauptsache anders
Die Kunstpartys sind – auf ihre Art – in jener Reinwinkphase. Immer schon galt dabei in dieser Szene: Man kann ein ausgeleiertes Fruit of the Loom-Sweatshirt anhaben. Man darf barfuß und mit schmutzigen Füßen kommen wie Björk. Man darf stinken und nerven.
All dies gilt hier seit jeher nicht als unhöflich, sondern als Ausdruck individueller Freiheit, vergleichbar mit den unbehandelten Augenbrauen von Martin Walser. Man muss aber, anders als ein Schriftsteller, nicht mal eine Idee haben. Man muss den Künstler nicht kennen und darf zu Hause auf Obstkisten wohnen. Das ist Avantgarde. Als Frau darf man sogar Zelte tragen. Wie die Architektin Zaha Hadid.
Trotzdem bekommt man umsonst Essen, Drinks und das Gefühl, jemand zu sein, der alles richtig macht. Die Kunst ist heute der gemeinsame Nenner von Friseuren, Schmuddel-TV-Erfindern, Schundblattverlegern, korrupten Managern.
Alle jene dürfen sich als Spezialisten aufführen, solange sie ihr Geld bei dem lassen, der ihnen um den Bart ölt: beim Galeristen. Als Zierrat wird der Rest mit durchgefüttert, Berichterstatter, Halbprominenz und Frauen. Sogar solche, die das alles zum Kotzen finden, wie ich, werden immer wieder eingeladen.
Letzte Woche zeigten Freunde von mir in der Pool Gallery in der Berliner Tucholskystraße Poster und Plattencover. In der Einladung stand: Vernissage. Ich ging trotzdem hin. Es ging ja um Musik. Es war ein ganz lustiger Abend.
Natürlich war halb Berlin da, weil in dieser nicht wirklich schönen Stadt viele Menschen leben, die Depressionen bekommen, wenn sie abends mal alleine zu Hause sind. Alle waren schnell betrunken, niemand interessierte sich für die ausgestellten Arbeiten.

Kunst ist überall
Auf der anschließenden Party im Cookies sagten vier Leute hintereinander zum Abschied: ‚Wir sehen uns in Basel.‘ Da wusste ich: Gott, ich stecke mittendrin. In der Kunst.
Sie ist überall. Es ist wie mit den Flip Flops. Erst war es nur ein Hype. Jetzt gibt es Flip Flops auf Laufstegen wie auch beim Lidl. Sie sind an den Füßen der ganzen Welt. Bald wird man sie auch in Kirchen tragen dürfen, sogar bei der Papstaudienz, und zwar mit jener Selbstverständlichkeit, mit der Künstler ihre Werke an Ausbeuter-Banken in China verkaufen, damit sie dort in Panzerschränken verschwinden.
Meine Kuratorinfreundin Michelle Nicol sagt dazu: „Ist doch gut, dass Kunst demokratisiert wird.“ Demokratisch wäre ich auch gern! Deshalb ging ich, back in Zürich, zur Grieder Contemporary Party – Sculpture Trail Opening. Alle gingen dahin. Es war das Wochenende vor der Art-Basel-Eröffnung, und es ist so üblich, dass die Galerien Leute einladen, um auf sich aufmerksam zu machen.
Ich dachte: Mensch, dann geht’s halt um nix in dem Zirkus außer: Get the party started! Ich hatte mir doch eh vorgenommen, die Oberfläche zu feiern. Nur gut aussehen sollte sie, die Oberfläche.
Aber woran geht aller Glanz zugrunde? An Hybris und Indifferenz. Das killte schon Kunstwerke wie Robbie Williams, Boris Becker und Michael Jackson. Zur Hybris: Wer auf Einladungen schreibt Grieder Contemporary Party – Sculpture Trail Opening, der sollte lieber Schachteln für die Kosmetikindustrie beschriften statt Einladungen.
Nun zur Indifferenz: Bei Grieder waren ungefähr 150 unauffällig aussehende Menschen ab 40, die sich in dem Architektenhaus am Zürichsee auf fünf Ebenen verteilten. Es gab reichlich zu essen und zu trinken.

Zelebrierte Peinlichkeit
Im Garten war ein marrokanisches Zelt aufgebaut. Die Musik des DJs klang, als ob einer ständig zwischen Bayern 3 und Antenne Bayern den Schalter umlegt, und wer das je hören musste, der weiß: Es war eine beleidigende, entmündigende Abfolge alter und überaus ekelerregender Charthits.
Man versicherte sich etwas irritiert, dass die Partys während der Art besser seien, als die davor. (Jeder braucht eine Perspektive im Leben.) Dann steckten sie mir Visitenkarten zu: ‚Wir sehen uns in Basel.‘
Ich ging auf die Dachterrase, um mir die Kunst anzusehen, wenigstens. Kerim Seiler hatte ein gigantisches atomähnliches Gebilde zusammenmontiert, bestehend aus Stöcken und Neon-Leuchtröhren.
Daneben stand ein Glas-Skelett der Künstlerin Melli Ink. Später tanzten alle zu ‚I Was Made For Loving You‘ von Kiss und dann zu ‚Sex Bomb‘ von Tom Jones. Männer spielten Luftgitarre. Ich schämte mich, tanzte aber mit.
Jetzt bin ich in Südfrankreich. Ich fahre zurück in die Schweiz, wenn der Messequatsch und die Fußballeuropameisterschaft vorbei sind. Unterdessen gestehe ich, dass mir die Glas-Skelette von Melli Ink ganz gut gefallen haben.
Ich hätte gerne fünf davon gekauft. Für jedes meiner Zimmer eins. Es gab aber leider nur vier.“

Zitiert aus dem Artikel von Wäis Kiani (CH) aus der Süddeutschen Zeitung vom 06.06.2008

„Eine Polemik über Künstler
Die zunehmende Verbreiterung und Vermittelung der Kunst und die Motive dahinter – eine psychologische Polemik

»Jeder Mensch ist ein Künstler« (Beuys) und
»Kofferpacken – eine Kunst« (FAZ, 3.08.2007)

… Sie haben im Laufe dieses Tages von allem Möglichen als einer Kunst gehört – von der »Kunst des Lernens«, von der »Kunst der Beteiligung«, von der »Kunst der Schule«, von der »Kunst des Neulands«, von der »Kunst der Vermittlung« usw. Es wird Sie angesichts des Titels meines Vortrags kaum überraschen, von mir zu hören, dass nichts von dem, was da als Kunst behauptet wird, etwas mit der Kunst zu tun hat, geschweige denn eine ist. Solche Behauptungen beweisen eine derartige Ahnungslosigkeit von Kunst und Künstlerschaft, dass man sie – sachlich gesehen – eigentlich nicht ernst nehmen kann. Aber da sich solcherart Kunst-Behauptung heutzutage größter Beliebtheit erfreut, muss man sie gleichwohl – wenn auch nur psychologisch, als Symptom – ernst nehmen und sich fragen: Was wollen die Leute sich und der Welt mit solcher Behauptung sagen? Was haben sie von dieser Kunst-Behauptung?

Nun, sieht man, dass sie bevorzugt das als Kunst behaupten, zu dem sie eine Nähe – beruflich oder hobbymäßig – haben, dann wollen sie wohl ganz offensichtlich sich bzw. ihrem Tun diese Besonderheit geben, die gemeinhin der Kunst zugesprochen wird. Nun, damit lägen sie allerdings schon rein logisch gründlich daneben: Denn in dem Maße, wie immer mehr als Kunst gilt, stellt die Kunst selber immer weniger etwas Besonderes dar; und wenn die Kunst nichts Besonderes mehr ist, dann ist es auch nichts Besonderes mehr, dass etwas eine Kunst ist. Kurz: Dann macht diese Aussage nichts mehr her. Denn die Aussage, Vermittlung, Lernen oder sonstwiewas sei eine Kunst, macht doch nur dann etwas her, wenn der Kunst eine Besonderheit zugesprochen wird, die aber solcherart Behauptungen doch gerade mindern.

Ähnlich, wie die Beuys’sche Diktum »Jeder Mensch ist ein Künstler« doch nur etwas hermacht, wenn Ein-Künstler-zu-Sein etwas Besonderes ist, was aber diese Aussage doch gerade verleugnet. – Stellen Sie sich vor, dieser Satz wäre wahr -– und wirklich jeder Mensch ein Künstler: Dann würde dieser Satz keinem Menschen etwas bedeuten. Das tat er aber und tut er immer noch, also … Gerade die Popularität, die dieser Satz errang, beweist, dass er nicht zutrifft. Also: Wer von der Kunst sagt, die mache ich – als Mensch, als Vermittler, als Lehrer oder Lernender – auch, der nimmt der Kunst just das, was er sich bzw. seinem Tun, es mit ihr gleichsetzend, zu geben sucht: Besonderheit.

Nun könnte man meinen, dass das doch nicht weiter schlimm und eh zutiefst menschlich sei, schließlich wäre jeder gern was Besonderes und wollen wir doch alle was hermachen und die da tun es eben, indem sie sich bzw. ihr Tun in die Nähe der Kunst zu bringen suchen. Warum nicht?! Zumal es doch durchaus sein könnte, dass diese Leute, ihr Tun – wenn auch etwas vermessen – der Kunst vergleichend, immerhin sich in ihrem Tun angestiftet sehen, auch dort die viele Arbeit auf sich zu nehmen, von der seit Karl Valentin bekannt ist, dass die Kunst sie – so schön sie auch ist – allemal macht.

Aber – das ist meine These – gerade das ist nie nicht der Fall, sondern das genaue Gegenteil: Durch die Nähe zur Kunst, welche die Leute von sich bzw. ihrem Tun behaupten, werden sie in ihrem Tun nur immer laxer, saumseliger und fahrlässiger. Wieso das? Weil man es nach allgemeinem Dafürhalten in der Kunst, diesem »Unwägbaren« (… ) nicht so genau nehmen kann und auch nicht darf, besteht doch, wie eine Künstlerin in der Zeitschrift »MUS-E ZEIT« der Menuhin-Stiftung so treffend und so repräsentativ für ein grassierendes Kunstverständnis feststellt, »die ganz große Kraft des Künstlerischen zuallererst im Auflösen von Kategorien und ganz besonders jenen von richtig und falsch.« Und es ist eben dieses Missverständnis von der Kunst als einer existenziellen Lockerungsübung jenseits von Gelingen und Misslingen, von Erringen und Verfehlen, von Können und Stümpern, – mit der damit einhergehenden Verwechslung von spielerisch mit beliebig, von kreativ und kreatürlich usw. – was dazu geführt hat, dass da, wo es heute – unter welchem Vorzeichen auch immer – um Kunst geht, die Leute sich eine Fahrlässigkeit in ihrer Arbeit, eine Willkür im Umgang mit Sachen und Personen gestatten, für die sie in jedem anderen beruflichen Zusammenhang gefeuert würden. Sollten Sie das für eine haltlose und schlicht bösartige Unterstellung halten, dann bitte hier als Beispiele für diese Willkür, Laxheit und prätentiöse Schlamperei, die typisch geworden ist für den Betrieb, der um die Kunst und mit ihr gemacht wird einige Phänomene aus dem Kontext dieser Tagung und ihrer Organisation.

(…) Und im Übrigen gibt es reichlich weitere Beispiele dafür, dass die Nähe zur Kunst bzw. die Kunst heutzutage als Alibi herhalten muss dafür, dass man gewissen Ansprüchen an sein Tun oder an sein Leben nicht genügt.

So ist ja – seitdem das Beuys’sche »Jeder Mensch ist ein Künstler« im Raume steht – der Fall alltäglich geworden, dass Menschen, insbesondere Heranwachsende, die gewisse, ganz normale Schwierigkeiten mit sich und/oder der Umwelt haben bzw. sich als »anders« (bevorzugt: »irgendwie anders«) erfahren, darin den ultimativen Beweis ihrer Künstlerschaft erkennen. Die ihnen Beuys zufolge ja eh schon wesensmäßig zukam, deren Vorliegen sie nun aber auch noch sozusagen empirisch bezeugt sehen durch ihre Schwierigkeiten, dem zu genügen, was für einen Jedermann das ganz Normale ist.

Was hat es mit dieser nachgerade inflationären Selbstentdeckung als Künstler auf sich, zu der das Beuys’sche Diktum viele Menschen inspirierte? Sich in der beschriebenen Weise als Künstler entdeckend, schreibt das Subjekt seinem Unvermögen bzw. seinem Unwillen, den gegebenen sozialen Regeln und Ansprüchen zu genügen, einen höheren Sinn zu und werden ihm seine Aversionen und Insuffizienzen unversehens als Zeichen der Berufung lesbar. – Was ihm vielleicht eben selbst noch fragwürdig subjektiv erschien und vielleicht noch sehr in Scham und Zweifel befangen war, dazu findet sich dieser Mensch jetzt nachgerade »objektiv« legitimiert: Denn jetzt muss er nicht mehr als dieses Individuum namens X sein Recht auf Unangepasstheit, auf ein alternatives Leben behaupten und erkämpfen, sondern ist ihm das – als diesem Künstler, zu dem er sich erklärt hat – genuin gegeben. Und mehr noch: Jetzt ist es eine Pflicht der Gesellschaft, ihm im Namen der Großen Sache, der er dient, dieses Recht nicht nur einzuräumen, sondern ihm dessen Gebrauch auch materiell zu ermöglichen.

Hier genau tritt der ganze Charme dieser Vermittelung der Kunst zutage: Sie dient nicht nur dazu, auf sehr bequeme Weise der eigenen Person das Recht zu geben – das selbstverständlich jedermann zusteht – sich gewissen gängigen Ansprüchen der Gesellschaft, der Familie, der Mitmenschen zu entziehen. Sondern jetzt können diese Kunst-Jünger im Namen der menschheitlichen Mission, die sie vorgeblich erfüllen, selber Ansprüche an die Gesellschaft stellen.

Während beispielsweise ansonsten in unserer Gesellschaft gilt, dass jeder selbst für das Dach über seinem Kopf zu sorgen hat, ist es unter diesen Quasi-Künstlern inzwischen verbreitet, es für eine selbstverständliche Bringschuld der Kommune zu halten, ihnen Ateliers oder sonst wie geeignete Räumlichkeiten für ihr hohes Wirken und Wohnen zu stellen. Eine Ablehnung ihrer eigennützigen Forderung im Namen bürgerlicher Gleichbehandlung durchschauen sie sofort als einen Akt tiefster Kunstfeindlichkeit und kulturloser Barbarei. Kurz: Hier wird die Kunst von Individuen »indienstgenommen« als feiges Alibi für ein alternatives Leben. Da geht es nicht um die Kunst, sondern diese dient qua behaupteter Künstlerschaft dazu, auf bequeme Weise eine abweichende Existenzform zu legitimieren und auf gewisse gehobene Lebensansprüche ein sozusagen objektives Recht zu reklamieren, welche persönlich zu stellen und zu verwirklichen jedermann zusteht, ihnen aber zu sehr der Mut abgeht. – Um von der Leistungsbereitschaft einmal ganz zu schweigen.

Diese Vermittelung der Kunst findet nun beleibe nicht nur auf dieser individuellen Ebene statt, sondern weit intensiver noch seitens jener Unternehmen, die sich neuerdings als Kulturträger verstanden wissen wollen. Man sehe da nur alle diese Konzerte, Ausstellungen und sonstigen Kulturveranstaltungen mit dem nachdrücklichen Hinweis auf ihre Sponsoren aus Handel, Bank, Versicherung et cetera. Ist es nicht putzig bis pervers anzusehen, wie Unternehmen, die von plattesten Interessen à la »shareholder value« geprägt sind, sich mit Werken aus der Kunst, also aus diesem Reich des »interesselosen Wohlgefallens« (Kant) zu schmücken suchen? Es wird da gerne angeführt, mit ihrem Sponsoring kämen die Unternehmen doch nur aufs Schönste dem nach, was ihnen als gesamtgesellschaftliche Verantwortung zukomme; sie täten mit ihrer Förderung der Kultur ein selbstlos gutes Werk an der Gemeinschaft, kurz: Hier springe die Ökonomie mutig über ihren eigenen Schatten – über das Mehrwert-Hecken und Profit-Machen.

Mag durchaus sein, dass dieses Sponsoring der Kunst zu mehr gesellschaftlicher Präsenz verholfen hat, auf jeden Fall aber verhilft hier die Kunst den Firmen zu einer preiswerten, zielgruppen-präzisen Werbung. Gewiss kann man seine ökonomische Macht dazu einsetzen, der Kunst im sozialen Leben eine höhere Realität zu geben – wird da aber nicht vielleicht eher die Kunst eingesetzt, um der ökonomischen Macht einen schönen Schein zu geben: Indem sie der Gesellschaft ausnahmsweise mit der Kunst etwas Bedeutendes gratis bieten, suchen diese Unternehmen die gemeine Regel vergessen zu machen, der sie das Vermögen dazu verdanken. Nur in größerem Maßstab, ansonsten aber nicht viel anders, als wie in früheren Zeiten der Herr der Firma seinen langjährigen Mitarbeiter zum 50sten Dienst-Jubiläum mit einer goldenen Uhr zu beschenken pflegte: Da sollte sich der über Jahrzehnte Entlohnte für einmal belohnt fühlen. Kurz: Hier wird die Kunst von Unternehmen vermittelt (indienstgenommen), um sich im Kulturellen das Air einer Gemeinnützigkeit zu geben, die ihnen im Ökonomischen so gründlich abgeht.

Weiteres Beispiel dieser Vermittelung der Kunst: Man sehe die Rolle, die der Kunst bei den neuen Regierungsbauten, bei der Einrichtung Berlins als Regierungssitz gegeben wird. Alles, was Rang und Namen hat, Richter, Polke, Baumgarten, Merz, Chillada, Lüpertz usw., das muss da ran an den Bau –nur das Beste und die Besten sind gut genug. (Schön wäre, wenn bei der personellen Besetzung der Regierungsämter ähnlich anspruchsvoll ausgelesen würde wie bei ihrer künstlerischen Ausstattung.) Ganz offensichtlich soll da der Bürger, der seinem Staat zunehmend eine politische Verdrossenheit entgegenbringt, wenigstens in ästhetischer Hinsicht von ihm verblüfft und beeindruckt werden. Da ist also jenes epater le bourgeois, das einmal eine provokatorische Maxime in der Kunst war, zum Prinzip ihrer regierungsamtlichen Instrumentalisierung geworden.

Bester Beleg dafür die Reichstags-Verpackung von Christo, dieser Triumph der Verpackung über den Inhalt: Soviel Beachtung wie der Reichstag durch seine Verpackung fand, ist er weit davon entfernt, durch seine parlamentarischen Leistungen zu verdienen Kurz: Hier werden die Kunstwerke von der politischen Macht als imposante Draperie für den banalen, von Partei-Banden, Pressure-Groups und Lobbyisten-Gangs zernierten Betrieb ihres Regierens indienstgenommen – sucht eine ebenso horizontlose wie subalterne Tagesgeschäftigkeit sich mithilfe der Kunst die Mimikry des Zeitlosen und Erhabenen zu geben.

Noch ein Beispiel: Stichwort »Kunst im öffentlichen Raum« – woher die Ambition der Gemeinden und Städte, allerorten nicht nur in den Grünanlagen und vor öffentlichen Gebäuden sondern jetzt auch mal auf dem Mittelstreifen oder hinterm Bahnhof und in der Fußgängerzone sowieso – irgendwelche Kunstwerke aufzustellen? Ist es ihnen wirklich so um die Kunst zu tun – um das, was man gerne die >Befreiung der Kunst aus dem musealen Ghetto< heißt?

Es drängt sich ein sehr anderer Eindruck auf, sieht man den Kontext solcher Initiativen, nämlich diesen Schwachsinn, den keiner besser auf den Begriff bringt, als die Firma, die daraus allerorten Profit zieht, – diese »Stadmeublierung«, wie es die Firma Decaux nennt. In diesem aufgemöbelten öffentlichen Raum soll wohl die Kunst dem einwohnenden Menschen das bringen, was ihm im häuslichen Meublement, im Heim, von alters her der Nippes zu besorgen hatte: Stimmung, Erlebnis, Animation – will sagen, ein punktuelles Entkommen dieser platten Ratio und Funktionalität, die ansonsten in seinem gegenständlichen Ambiente so bestimmend sind wie in ihm selber.

Kurz: Hier, in der »Kunst im öffentlichen Raum«, wird die Kunst indienstgenommen sozusagen in der Funktion eines »optischen Aufhellers« – als Stimmungsmacher: Da hat sie den Leuten die Beseelung, die Animation zu besorgen, die sie in ihren materiellen Lebensverhältnissen nicht mehr erfahren. Die Kunst: eine zentrale Abteilung in diesem Animier-Betrieb, als welcher heute Kultur fungiert. Es wären unschwer weitere Beispiele anzuführen für das, was hier als Verbreiterung und Vermittelung der Kunst angesprochen wurde, aber zurück zu der eingangs aufgeworfenen Frage nach dem Symptomwert dieser allgemeinen Ranmache an die Kunst, nach dem Woher dieses Aufhebens, das alle Welt um und mit Kunst macht.

In aller Kürze und etwas tiefer in die Leier greifend: Ein Leben, das zu feige und/oder zu faul ist, sich seiner Gewöhnlichkeit zu entschlagen, aber doch so gerne was mit sich hermachen täte und sich doch als was Besonderes wenigstens erfühlen möchte – das sucht seine Zuflucht nur zu gerne bei der Kunst: An ihr und mit ihr hat dann dieser gewöhnliche Freund der Kunst endlich die Besonderheit im Erleben, als Erlebnis, die seinem Leben so gründlich abgeht.
Statt dem Leben die Enge zu nehmen, wird die Kunst verbreitert. Statt das Niveau des Lebens zu heben und dieses gegen die Niedrigkeit der materiellen Zwecke zu verteidigen, unter die es unsere Gesellschaft oft genug stellt, wird da die Kunst erniedrigt, indem man sie zur Mimikry eines gehobenen Daseins vernutzt und vermittelt.

Um mit etwas Erbaulichem zu schließen: Bei Marshall McLuhan findet sich diese Geschichte von einem kleinen Stamm irgendwo auf einem winzigen Archipel weitab unserer Welt. Ein Ethnologe ist angereist, und nachdem er sich über die HeiratsregeIn, Riten, Essgewohnheiten und Werkzeuge dieser Menschen eingehend ins Bild gesetzt hat, fragt er sie nach ihrer Kunst. Sie verstehen ihn nicht. Nach langem Hin und Her, in dem er versucht, ihnen zu erklären, wonach er fragt, erhält der Ethnologe zur Antwort: Wir kennen keine Kunst, wir machen Alles so gut wie wir können. Wirklich sehr weitab das von unserer Welt.“ Friedrich Wolfram Heubach

Zitiert aus »Johannes Bilstein, Winfried Kneip (Hgg.), Curriculum des Unwägbaren, II. Die Musen als Mägde: Von der Veränderung der Künste in der Schule, Athena Verlag, 2009«